Freitag, 20. Dezember 2013

noch ein Monat - Kulturpause

Heute ist der 20.Dezember, genau ein Monat noch bis zu meinem Abflug nach Punta Arenas. Morgen ist die längste Nacht, dann geht es schon wieder Richtung Sommer auf der Nordhalbkugel. Aber erst wird noch Weihnachten gefeiert, oder das, was jeder dafür hält. Habt ihr gewusst, dass momentan jeden Tag rund 16 Millionen Pakete und Päckchen in Deutschland verteilt werden? Und dass etwa 80 Milliarden Euro alleine in der Weihnachtszeit im Einzelhandel umgesetzt werden, also annähernd 20 Prozent des ganzen Jahres? Morgen am letzten Samstag werden die Innenstädte wieder brechend voll sein, alle sind hektisch und nervös und neigen zur Aggression, und von der "stillen Zeit" ist nichts zu spüren. Konsum regiert die Welt, der Eurobetrag ist die Messlatte, wie sehr ich von meiner Familie und den Freunden geschätzt und geliebt werde. Nur wenige wagen es da auszubrechen, alle machen mit.
Da war eine Auszeit gestern im Theater gerade richtig. Ulli's Freundin und Abonnement-Partnerin Maria hatte keine Zeit, deshalb sprang ich ein und wusste noch nicht einmal, was da im Kleinen Haus in Mainz gespielt wurde. Als wir dann auf unseren Plätzen saßen, erblickte ich auf dem Prospekt in der Reihe vor mir : "Kaspar" von Peter Handke. Oh Schreck, ausgerechnet der Autor, der keinen "normalen Satz" schreiben kann, sondern den immer selben Satz mit immer neuen Umstellungen und Zusätzen oder Fortlassen von Satzteilen verändert und es dem Leser so schwer macht, ihm zu folgen. Ich hatte mich in meiner Jugend an seinen "Hornissen", "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" oder auch dem von Wim Wenders verfilmten "Die Angst des Torwarts beim Elfmeter" versucht, aber ich bin nie richtig warm geworden mit seiner Art zu schreiben. Etwas voreingenommen wartete ich also auf den Beginn des Stücks und wurde auf wunderbare Weise positiv überrascht.

Die Hauptfigur ist dieser Kaspar Hauser, der 1828 völlig hilflos, sprachlos und unzivilisiert bei Nürnberg auftauchte. Handke benutzt Kaspar aber nur, um zu zeigen, was Sprache ist und wie Sprache dazu verhilft, sich als Fremder in einer Ordnung zurecht zu finden. Sprache ist ja nur eine Vereinbarung von Menschen derselben Sprachgruppe. Ein Tisch ist ein Tisch, aber man könnte ihn auch Stuhl nennen, und den Stuhl Tisch. Statt mit dem Stuhl näher an den Tisch zu rücken, könnte man also auch sagen, man sitzt auf dem Tisch und rückt näher zum Stuhl. Alle verstehen, wenn für alle  gemeinsam das, worauf man sitzt, mit demselben Begriff belegt wird, egal ob Stuhl oder Tisch.
Tisch und 2 Stühle oder Stuhl und 2 Tische - eine Vereinbarung
Das hat mich lebhaft an einen Urlaub vor 40 Jahren in Südfrankreich erinnert, auf den wir auswichen, nachdem den Mitreisenden Griechenland nach dem Putsch des Militärs zu gefährlich war. Neben meiner ersten großen Liebe Ingrid war ihre Freundin Andrea dabei, deren jüngerer Bruder Christoph del Bondio vielen Motorradfahrern ein Begriff sein dürfte. Wir waren alle zusammen auf demselben Internat am Ammersee, und mit Christoph war ich auch mal beim Skifahren. Leider war aber nicht er im Urlaub dabei, sondern Andrea's Freund, dessen Name ich seither aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Wir Männer debattierten damals abends im Zelt über Sprache, und ich hatte genau diese These von oben zum Besten gegeben, dass nämlich Sprache nur eine Vereinbarung ist, eine Art von gesellschaftlicher Ordnung. Er hielt dann unsere Petroleumlampe hoch und sagte, wenn er die jetzt loslassen würde, dann würde sie nach unten fliegen und kaputtgehen; darauf sagte ich, dass das wohl stimmen würde, dass wir beide aber auch andere Begriffe dafür verwenden könnten. Wir könnten vereinbaren, dass die Lampe nicht nach unten, sondern nach oben fliegt, oder dass sie nicht kaputt geht, sondern blau wird. Es sind ja nur Vereinbarungen, unten und oben werden vertauscht, kaputt und blau. Und was tat dieser dumme Mensch? Er ließ die Lampe fallen, um Recht zu behalten, und welche Begrifflichkeiten auch immer man dafür verwenden wollte, wir mussten sie im Müll entsorgen. Es war unsere Lampe, er schlief in unserem Zelt und fuhr bei uns im Auto mit, aber das war ihm offensichtlich egal. Meine Lebensgefährtin Ulli sagt, dass man damals so drauf war. Mag sein, ich jedenfalls habe mich diebisch gefreut, als der dumme Kerl sich am nächsten Tag ohne Sonnencreme ans Meer legte und danach für 2 Tage mit über 40°C Fieber außer Gefecht gesetzt war.

Doch zurück zum sprachlosen Kaspar. Er wird von zwei Einsagern durch Sprechen zum Sprechen gebracht, durch Sprechfolterung. Damit Kaspar den Zugang zur Gesellschaft bekommt, muss er letztendlich deren Sprache sprechen und verliert seine eigene Identität. Zivilisierung durch Identitätsverlust, am Schluss kann man Kaspar nicht mehr von den beiden Einsagern unterscheiden, alle drei sprechen dieselbe Sprache. Womit ich auch wieder bei den Weihnachtseinkäufen wäre. Jeder glaubt, etwas ganz Besonderes finden und schenken zu müssen, aber wenn wir ganz ehrlich sind, machen wir alle das Gleiche, kaufen das Gleiche, verhalten uns wie alle Andern, weil wir zu dieser Gesellschaft dazugehören wollen. Mit dem religiösen Ursprung des Weihnachtsfestes hat all das schon längst nicht mehr zu tun.
In einem Bienenvolk zählt nicht das Individuum, sondern nur das Überleben des ganzen Volkes; jede einzelne Biene ist so konditioniert, dass sie sich zum Wohl aller opfern würde. Das finden wir tapfer und ehrenvoll. Aber von der einzelnen Biene aus gesehen ist es genau das Gegenteil, es ist dumm, denn sie überlebt das nicht. Auch bei uns Menschen ist es die Sichtweise, die unterschiedliche Bewertungen bringt. Geben wir unsere Individualität auf, gibt es innerhalb der Gesellschaft keinerlei Probleme, solange wir ihr Mitglied sind. Werden wir aber von ihr ausgeschlossen oder wollen wir nicht ihre Sprache sprechen, werden wir bekämpft oder ignoriert. Das wollen wir nicht, und obwohl vielen Menschen der Weihnachtsrummel auf den Keks geht, machen ihn doch fast alle mit.
    
Und was hat das mit meiner Reise zu tun? Reisen heißt die gewohnte Ordnung verlassen, die Familie, den Arbeitsplatz, die Bekannten und Freunde und manchmal auch die gemeinsame Sprache.  Manchmal nimmt man einen Teil der gewohnten Umgebung mit, nicht nur mit seiner Ausrüstung, sondern indem man einer Reisegruppe mit demselben Hintergrund angehört. Man fühlt sich stärker in der Gruppe, muss sich weniger an die Menschen im Urlaubsland anpassen, kann seine eigene Sprache weitersprechen und hören. Als negatives Beispiel seien die Bettenburgen in den Touristenzentren wie Mallorca genannt, wo die Urlauber das bereiste Land derart verändert haben, dass es wie ihr eigenes Heimatland aussieht. Ein Hofbräuhaus gibt es inzwischen nicht nur auf Malle, sondern auch schon in der Mongolei. Der echte Kontakt zu den Bewohnern des Reiselands wird mit einer Gruppe ziemlich schwierig. Stellt euch mal vor, hier kämen plötzlich 15 fremd aussehende Menschen auf Dich zu, die sich in einer unverständlichen Sprache miteinander unterhalten, und einer davon zeigt auf Dich! Da bist Du nicht Du nicht hocherfreut, dass sie Dich etwas fragen wollen, sondern Du bekommst es erst mal mit der Angst zu tun, denn Du bist ja nicht Teil ihrer Gesellschaft und verstehst ihre Sprache nicht. Diese Angst ist auch Ursache für viel Fremdenhass hierzulande, man fühlt sich von den Türken, Südosteuropäern oder Afrikanern überrannt. In Wirklichkeit machen sie in Deutschland nur einen geringen Anteil aus, und fast alle sprechen deutsch. Wie also muss es den Bewohnern anderer Länder gehen, wenn wir da aufkreuzen?

Vor einem Einzelnen werden sie jedenfalls weniger Angst haben als vor einer Gruppe. Das bedeutet einerseits, dass man als Einzeltourist leichter Zugang zu den Menschen bekommt, es heißt aber auch, dass man eher Opfer wird, wenn es jemand auf einen abgesehen hat. Meine Reise ist ein Kompromiss: einerseits reise ich mehr als die Hälfte der Zeit alleine mit Rucksack und habe dadurch leichter Kontakt zu andern Reisenden oder den Südamerikanern; den Motorradteil dagegen lege ich im Schutz einer Gruppe von 6 Mitfahrern zurück. Hartmut will sein Motorrad zwar mit uns verladen, jedoch seine eigene Strecke fahren. Ich hatte mir überlegt ihn zu begleiten, aber er will überwiegend auf  dem Moped sitzen und fahren, ich dagegen möchte auch wandern und nicht soviel Strecke machen, und so passt das nicht zusammen. Ich bin schon gespannt, was mir besser gefallen wird, alleine oder in der Gruppe.   

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